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Wie der Drang nach Vollkommenheit unseren Alltag bestimmt

Ein Essay von Robert Rienass (zuerst erschienen im Obacht-Magazin)

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Film und Fernsehen kreieren das Bild eines perfekten Menschen. Die Gesellschaft reagiert darauf mit zwanghafter Selbstoptimierung. Wer aber bestimmt über Schönheit und Erfolg?


Vision und Ehrgeiz


Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze und arbeite, rattert es in meinem Kopf. Ich fokussiere mich auf das, was ich schreibe, denn ich möchte, dass mein Artikel gut wird. Ich will, dass er besser wird als der letzte. Zumindest ein bisschen. Akribisch achte ich darauf, nicht wieder die gleichen doofen Fehler wie beim vergangenen Mal zu machen. Kaum habe ich den Artikel fertig geschrieben, denke ich darüber nach, was ich als Nächstes tun könnte. Ständig bin ich in Aufruhr, nur selten genieße ich die Momente der Gegenwart. Meine Gedanken kreisen um zukünftige Projekte, um Dinge, die ich noch unbedingt tun möchte. Sie kreisen um Dinge, die ich schon immer tun wollte. Und das Schlimmste ist: Täglich werden es mehr.


Idealismus ist das Stichwort, das uns bewegt und antreibt. Egal, in welcher Lebenslage. Der Idealismus gibt uns die Linie vor, nach der wir unser Dasein ausrichten.

Wenn ich mich mit meinen Freunden darüber unterhalte, was sie gerade tun und welche Pläne sie für die Zukunft schmieden, bekomme ich meist dieselben Antworten: Studieren. Praktika. Auslandsaufenthalt. Fast alle träumen sie von einem Job in einer hohen Position. Sind es Visionen und Ehrgeiz, die hier aufeinander treffen? Oder bloß jugendliche Engstirnigkeit? Idealismus ist das Stichwort, das uns bewegt und antreibt. Egal, in welcher Lebenslage. Der Idealismus ist eine selbstaufopfernde Verwirklichung von Werten.


Vergleiche dich nicht


Wir aber existieren in einer Gesellschaft, in der sich unser Idealismus letztlich nur auf ein großes Ziel ausrichtet: Die Selbstverwirklichung. Wir leben in einem Zeitalter, in der die Suche nach dem »Ich« einen großen Stellenwert hat. Egal, ob in den Medien, der Schule oder im Elternhaus, meist heißt es: Geh‘ deinen Weg! In Wahrheit gehen wir nie unseren eigenen Weg. Ständig orientieren wir uns an anderen. Wir suchen uns Vorbilder, Leute, die uns faszinieren, Menschen, deren Aussehen, Tun und Handeln uns so sehr inspirieren, dass wir genau so sein wollen wie sie. Oder besser. In der Bibel heißt es: »Vergleiche dich nicht mit

anderen, denn es wird immer welche geben, die schwächer und stärker sind als du.


Doch aus dem ständigen Vergleichen entsteht oft eine Unzufriedenheit mit sich selbst und der unbedingte Wille zur Selbstoptimierung.

Vergleichst du dich mit den Schwächeren, überkommt dich der Hochmut und die Arroganz. Vergleichst du dich mit den Stärkeren, wirst du dir minderwertig und unvollkommen vorkommen.« Bezieht man diese Worte auf unsere Gegenwart, stellen sie uns vor eine schier unlösbare Aufgabe. Jeder vergleicht sich. Wenn auch nur unbewusst. Das ist menschlich. Wie sonst sollten wir herausfinden, wer wir sind und was wir wollen? Wir haben eine Vorstellung von absoluter Vollkommenheit, die von Stars in Film und Fernsehen verstärkt wird. Wir wollen immer schöner, klüger und fitter sein. Wer aber sagt mir, ab wann ein Mensch schön ist, ab wann er klug und ab wann er fit ist?


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Das Dilemma mit dem Ideal


Für Länge, Gewicht und Temperaturen gibt es Maßeinheiten. Für Aussehen und Erfolg nicht. All diese Dinge liegen stets im Auge des Betrachters. All diese Beurteilungen sind subjektiv und doch beruhen sie auf allgemein gültigen Idealen. Keiner würde beispielsweise dementieren, dass ein schlanker muskulöser Körper dem allgemeinen Schönheitsideal entspricht. Und doch weichen die Meinungen voneinander ab, wenn es darum geht, ob jemand schlank und muskulös ist. Nur wenige Menschen besitzen viele Ideale, keiner besitzt sie alle. Diese Tatsache vergessen wir oft.


Wir verdrängen, dass kein Mensch perfekt ist und dass es menschliche Vollkommenheit nur in

Filmen gibt. Zwanghaft kämpfen wir für unsere Selbstoptimierung und sind dann doch frustriert, wenn unser Körper nach zwei Monaten Sport nicht dem von Jennifer Lopez oder Bruce Willis gleicht. Als hätten wir es nicht gewusst.


Text: Robert Rienass

Illustrationen: Lisa Hildebrandt

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